Unsere heutige Zeit lässt uns immer weniger Zeit. Schneller, produktiver, effizienter heißen die Anforderungen im beruflichen Alltag. Und auch unser Privatleben ist häufig eng getaktet. Auf unser Koch- und Essverhalten wirkt sich das natürlich aus. Sowohl im Beruflichen wie im Privaten. Haben wir noch Zeit und Lust, selbst zu kochen? Ja – aber deutlich weniger als früher. Besuchen wir noch Restaurants und genießen gutes Essen vor Ort? Natürlich – aber auch hier fehlen uns zunehmend Zeitfenster und Lustmomente. Also lassen wir uns das Essen lieber ins Büro oder nach Hause liefern. Immer abhängiger wird der Konsument. Und bequemer. Ghost Kitchen wissen davon reichlich zu profitieren. Ein technologiegetriebener Trend, der schon länger in der Branche herumgeistert – der seine disruptive Energie nun aber immer schlagkräftiger einzusetzen scheint. Klassische Restaurantbetriebe sollten darauf achtgeben und vor allem reagieren. Zumal das Ghost Kitchen-Konzept auch für einen anderen Branchenplayer zunehmend interessant wird. Weil er damit seine heute schon enorme Marktmacht noch konsequenter ausspielen dürfte.
Unter Ghost Kitchen versteht man Restaurants ohne Gastraum und ohne Servicepersonal. Oft verfügen sie nicht mal mehr über eine eigene Küche, sondern lagern die Zubereitung ihrer Speisen an Großküchen aus. Als rein virtuelle Betriebe sind Ghost Kitchen speziell für die Essenslieferung konzipiert – und können von ihren Kunden deshalb nur online besucht und zur Bestellung genutzt werden. Im Vergleich zu klassischen Restaurants, die mit hohen Ausgaben für Lokalmiete, Einrichtung sowie für Koch- und Servicepersonal zu kämpfen haben, bietet der virtuelle Ansatz enormes Potential für die Wertschöpfung.
Weil Ghost Kitchen ihre Speisen von Großküchen zubereiten lassen oder sie temporär selbst anmieten, fällt ihre Kostenlast deutlich geringer aus. Geld, das sie stattdessen in den Aufbau und vor allem in die Skalierung ihrer Restaurantmarke(n) stecken. Denn meist versammeln sich hinter Ghost Kitchen mehrere oder eine Vielzahl von virtuellen Restaurants, die verschiedenste Küchenstile abbilden – von asiatischer über italienischer bis hin zu hipper Trendfood-Küche.
In Österreich kommt der virtuelle Restaurant-Trend langsam aber sicher an. RITA bringt’s ist einer der ersten Betriebe dieses Genres. Rein vegetarisch und biologisch wird hier gekocht und das Essen per Lastenrad an seine Bestellkunden ausgeliefert. Mit meinem Unternehmen FoodNotify habe ich RITA bringt’s bei der Digitalisierung ihrer Geschäftsprozesse unterstützt und betreue sie weiterhin auf ihrem Weg zu noch mehr digitaler Prozesseffizienz.
Ihren Ursprung haben Ghost Kitchen in den USA. Ein gewisser Peter Schatzberg bewies 2007 sein feines Gespür für disruptive Geschäftsmodelle, indem er in New York sein erstes Bio-Restaurant eröffnete und schon kurze Zeit später feststellte: Food Delivery hat viel größeres Erfolgspotential als das stationäre Restaurantgeschäft. Also Laufkundschaft = Auslaufmodell? Soweit würde ich nicht gehen. Dennoch brachte ihm sein in die Tat umgesetzter Lieferservice schnell einen satten Umsatz von 1 Mio. US-Dollar pro Jahr. Schatzberg war angefixt. Es musste mehr gehen. Und es ging mehr. 2013 stellte er mit seiner ersten Ghost Kitchen ein radikal neues Gastronomiekonzept auf die Beine – und avancierte damit zum Shooting Star und Vorreiter der Branche. Vor allem in den USA sind virtuelle Restaurants heute ein milliardenschweres Boom-Geschäft, das auch global immer weiter expandiert. Ghost Kitchen kooperieren dazu mit einem äußerst wichtigen Branchenplayer, ohne den die virtuelle Küche ziemlich kalt bleiben würde. Es sind die Lieferdienste, vor allem die großen und marktmächtigen. Eines ihrer entscheidenden Tools: die von ihnen betriebenen Online-Bestellmärkte.
Neben Ghost Kitchen ist natürlich auch eine Vielzahl klassischer Restaurantbetriebe auf den Online-Bestellmärkten der Lieferdienste gelistet. Zu ihren marktbeherrschenden Vertretern in unseren Breitengraden gehören vor allem Lieferservice.at, Lieferando, Foodora, Deliveroo oder auch Pizza.de.
Einer der globalen Big Player ist Just Eat – ein in London ansässiger Online-Bestellmarkt mit über 250.000 Restaurants und 26 Millionen Kunden, natürlich nicht nur in UK. In den USA spielt GrubHub die größte Rolle. Auf dieser Online-Plattform tummeln sich über 280.000 Restaurants, die sich wiederum in über 4000 US-Städten befinden. Verarbeitet werden über 745.000 Bestellungen pro Tag (!).
$365 Mrd
Quelle: „Is The Kitchen Dead“ von UBS
€2,15 Mrd
Quelle: Statista
Von der Essenslieferung profitieren also alle Branchenteilnehmer – die Ghost Kitchen, die klassischen Restaurants und natürlich die Lieferdienste selbst. Wenn man nun aber bedenkt, welche Marktmachtinstrumente die Lieferdienste heute schon nutzen, wird klar, zu wessen Gunsten sich das virtuelle Gastronomiekonzept in Zukunft verschieben könnte. Und zu wessen Ungunsten.
Restaurants müssen Provisionen an die Lieferdienste zahlen. Für Bestellungen, die über die Online-Bestellmärkte der Lieferdienste bei den Restaurants eingehen. Wenn ich richtig informiert bin, können sich entsprechende Provisionszahlungen in den USA auf unglaubliche 20 – 30 % pro Bestellsumme beziffern! In Österreich fallen sie vergleichsweise „mager“ aus – zum Beispiel mit 10% bei Lieferservice.at, dem hiesigen Platzhirschen.
Der Punkt ist jedoch: Während Ghost Kitchen die anfallenden Provisionen mehr oder weniger einfach kompensieren können (weil deutlich weniger Kosten für den Küchenbetrieb), haben klassische Restaurants eine hohe finanzielle Zusatzlast zu tragen:
In Österreich erhält ein gut laufendes klassisches Restaurant durchschnittlich 100 Bestellungen pro Tag über einen Online-Bestellmarkt. Die jeweilige Bestellsumme beträgt durchschnittlich 15 €. Bei einer Bestellsumme von gesamt 1500 € pro Tag muss das Restaurant also 150 € Provision zahlen. Der gesamte Provisionsdruck auf den Monat hochrechnet: ca. 4600 € – nur für einen Lieferdienst.
Meist sind österreichische Restaurants jedoch bei zwei Lieferdiensten gelistet. Was bedeutet, dass sich die monatliche Provisionslast auf 10.000 € (!) und mehr hochschrauben kann. Schwindelerregend für klassische Restaurants. Ertragbar für Ghost Kitchen. Sehr einträglich für die Lieferdienste.
Durch ihre digitalen Datenschnittstellen wissen Lieferdienste so gut wie alles. Welche Gerichte und Menüs bestellt werden. An welche Personen und Unternehmen geliefert wird. Zu welchen Preisen. Zu welchen Zeiten. Welche Speisen in welcher Region am beliebtesten sind. Welche nicht. Und so weiter. Das ist Datenkontrolle at it’s best – sowohl bezogen auf die Bestellungen selbst, als auch auf die persönlichen Kundeninformationen. Die Restaurantbetriebe bleiben davon weitgehend bis komplett ausgeschlossen. Dieser Daten-Protektionismus seitens der Lieferdienste ist für sie selbst natürlich Gold wert. Und kann ihnen dabei helfen, das Ghost Kitchen-Business in Zukunft noch mehr anzufeuern. Und zwar ihr eigenes.
Lieferdienste mit ihren Online-Bestellmärkten spielen also schon heute ihre Marktmacht aus. Über ihr Provisionsmodell. Über ihre Lieferinfrastruktur, auf die Gastronomiebetriebe angewiesen sind. Und über ihren Daten-Protektionismus. Wenn die Lieferdienste nun auch noch beginnen, ihre eigenen Ghost Kitchen aufzubauen und zu etablieren, wäre ein eigener 360°-Kreislauf aus Essenbestellung, Zubereitung und Lieferung sichergestellt. Und damit eine Umsatzpotenzierung bei den Lieferdiensten. Klassische und virtuelle Restaurants hingegen wären draußen. Von der Lieferkette abgeschnitten, müssten sich vor allem klassische Betriebe etwas einfallen lassen, um ihre Marktposition nicht noch weiter zu gefährden. Denn im Vergleich zu Ghost Kitchen ist die digitale Expertise bei ihnen deutlich weniger ausgeprägt. Was die Sache nicht gerade leichter, aber dennoch lösbar macht. Die Chance ist da. Wenn sie erkannt und deren Umsetzung sobald wie möglich angegangen wird.
Und die Chance heißt: Klassische Restaurants erweitern ihren stationären Betrieb um ein eigenes Ghost Kitchen-Modell. Selbsterklärend ist dazu einiges an Technologie- und Digitalisierungs-Know-how sowie an Experimentierfreudigkeit und strategischen Vorüberlegungen notwendig.
Nicht nur, dass eigene Bestelltechnologien aufgebaut, getestet und implementiert werden müssen. Es geht auch darum, die Nutzung eines geeigneten virtuellen Modells durchzuspielen.
Macht es zum Beispiel Sinn, seinen Ghost in den bestehenden stationären Betrieb zu integrieren? Oder sollte eine eigene Geschäftsunit gegründet werden, um Kapazitätsengpässe oder gar Kannibalisierungseffekte zwischen stationärem und virtuellem Betrieb zu vermeiden?
In jedem Fall böte sich ein noch recht junges, aber innovatives Tool für die Kocharbeit an: Multi-Tenant-Küchencenter. Diese bestehen aus einer Software-Architektur, die von mehreren Gastronomiebetrieben gleichermaßen genutzt wird – ohne Dateneinsicht des jeweils anderen. Kitchen United, aber auch Cloud Kitchens sind zwei amerikanische Pioniere auf diesem Gebiet.
Zudem werden sich vor allem klassische Gastronomiebetriebe mit der robotergestützten Zubereitung von Speisen zumindest befassen müssen. Ganz einfach, weil damit der Kostenapparat deutlich schlanker gestaltet werden kann. In den USA wird künstliche Intelligenz schon länger in der Küche eingesetzt, um etwa Pizza zu backen und natürlich auch Burger vollautomatisch zuzubereiten. Software- und sensorgestützt über den gesamten Herstellungsprozess hinweg und damit zeit- und kosteneffizienter als bislang vorstellbar.
Und nicht zuletzt sind auch Überlegungen zur künftigen Essenslieferung anzustellen. Hierfür werden eigene digitale Treiber ebenso benötigt wie die Auswahl und Implementierung geeigneter Zustellanbieter.
Wie man sieht, wird der Horizont, an dem sich vor allem klassische Restaurantbetriebe orientieren sollten, nicht gerade enger. Stehen sie neuen Technologien und der Dynamik des Marktes jedoch aufgeschlossen gegenüber, können sie die disruptive Energie des virtuellen Restaurant-Konzepts für ihren eigenen Betrieb nutzen. Und zwar erfolgreich. Ich glaube daran. Denn im Vergleich zu rein virtuellen Betrieben haben stationäre Betriebe den vielleicht entscheidenden Vorteil.
Es sind das Renommee und die (Marken-)Bekanntheit, die sie sich über die vergangenen Jahre bereits aufgebaut haben. Als Gast weiß man einfach sicher, was man von seinem Gastgeber bekommt: eine reale, persönliche und eigenständige Restaurant-Atmosphäre, in der die servierten Speisen ebenso top sind wie der Service des Bedienpersonals. Ein gewohnt hohes Kundenerlebnis also, das mit einem neuartigen Servicebaustein auf ein neues Level gehoben werden kann – Ihren (Stamm-) Gästen nämlich die Wahl zu lassen: Genuss wie üblich im Restaurant vor Ort erleben. Oder bei sich zu Hause bzw. im Büro. Denn wir wissen ja, wie es heutzutage im hektischen Berufs- und Privatleben um die verfügbaren Zeitfenster steht.
Ich jedenfalls wünsche mir sehr, dass klassische Restaurantbetriebe beginnen, neu oder zumindest offener zu denken und zu agieren. Nicht erst in ein paar Jahren, sondern sehr bald.
Denn auch wenn sich viele dieser Betriebe mittlerweile der Speisenzustellung bedienen – sie sollten sich damit nicht allzu sicher fühlen.
Herzlichst,
Ihr Thomas Primus